Gedenktag zum Brandanschlag in Solingen vor 30 Jahren Verurteilte brechen ihr Schweigen

Der Gedenktag zum Brandanschlag in Solingen vor 30 Jahren findet am 29. Mai statt
Brandanschlag-Gedenktag in Solingen: Familien trauern um Opfer, Verurteilte nehmen Stellung © picture alliance/dpa
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Am 29. Mai, dem 30. Jahrestag des Brandanschlags, findet ein Gedenktag in Solingen statt. Auch Politiker nehmen an dem Gedenktag teil. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird in Solingen erwartet, begleitet von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und weiteren Mitgliedern der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

Am Donnerstag äußerten sich drei der vier Verurteilten erstmals zu dem Brandanschlag. Zur Tatzeit vor 30 Jahre waren die Männer zwischen 16 und 23 Jahre alt. Über den Solinger Rechtsanwalt Jochen Ohliger wiesen die Verurteilten eine Verantwortung für die Morde zurück und beteuerten, zu Unrecht zu hohen Haftstrafen verurteilt worden zu sein.

Mit einer Schweigeminute hat der Landtag in NRW am Freitag der Opfer des rechtsextremistischen Brandanschlags in Solingen vor 30 Jahren gedacht. Bei dem Gedenken waren auch Mitglieder der Familie Genç im Plenarsaal anwesend. Unter ihnen war Durmus Genç, Ehemann der im vergangenen Jahr gestorbenen Mevlüde Genç. Sie hatte schon kurz nach dem Attentat zur Versöhnung aufgerufen und immer wieder gemahnt, dass dem Hass Einhalt geboten werden müsse.

In einem gemeinsamen Antrag forderten die Fraktionen von CDU, Grünen, SPD und FDP am Freitag, den Ermittlungsdruck gegen rechtsextremistische Straftaten weiterhin hoch zu halten.

Der Brandanschlag von Solingen gilt bis heute als eines der schwersten rassistischen Verbrechen in der Bundesrepublik. Kurz nach der Tat waren vier junge Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen worden. Sie waren der rechten Szene zuzuordnen und wurden 1995 wegen Mordes verurteilt. Die Bilder des ausgebrannten Hauses der Familie Genç gingen 1993 um die Welt. Die Brandruine ist längst abgerissen. Große Kastanien füllen die Baulücke.

30 Jahre nach Brandanschlag: Stellungnahme von drei Verurteilten

In ihrer Stellungnahme sprechen die drei Verurteilten der Familie Genç ihr Mitgefühl aus. Worte könnten nicht ausdrücken, was die Familie habe durchleiden müssen und immer noch durchleide, schreibt einer der Männer. Trotzdem beklagen die drei Männer die unrechtmäßige Verurteilung und werfen den Ermittlern Fehler vor, wie die RP berichtet.

Alle drei Verurteilten beteuern ihre Unschuld. „Den Angehörigen der Opfer dieses schrecklichen Verbrechens möchte ich nochmals mitteilen: Wir drei sind nicht die Mörder Ihrer Angehörigen“, schreibt einer der Männer.

Die Frage, warum die drei Verurteilten Christian B., Markus G. und Felix K. gerade jetzt eine Stellungnahme veröffentlichen, konnte auch der mit der Veröffentlichung beauftragte Rechtsanwalt Jochen Ohliger nicht beantworten. Darüber lasse sich nur spekulieren, sagte Ohliger auf Anfrage der RP. Die starke mediale Aufmerksamkeit für das Thema habe wohl etwas „hochgespült“ und den Wunsch der Männer verstärkt, sich selbst zu äußern, mutmaßte der Anwalt,

Solingen: Angehörige wollen Stellungnahme nicht kommentieren

Die Familie Genç und die Stadt Solingen, die zurzeit die Gedenkfeier am kommenden Montag vorbereiten, wollten sich am Donnerstag nicht zu den Stellungnahmen äußern. „Dies wird nicht kommentiert“, so ein Rathaus-Sprecher.

Keiner der vier Täter habe sich in den vergangenen 30 Jahren bei ihnen gemeldet, geschweige denn entschuldigt, so Hatice und Kalil Genç bei einem Interview im Rathaus in Solingen am 17.5. „Wir hatten keinen Kontakt zu diesen vier Personen und wollen auch keinen. Wir wollen nicht einmal ihre Namen hören.“ Alle vier sind längst wieder auf freiem Fuß. „Als Mutter kann ich nicht damit leben, wenn ich daran denke, dass ich Ihnen begegnen könnte.“ Dennoch hätten sie nicht eine Sekunde überlegt, Solingen zu verlassen.

Gedenktag in Solingen: Gegen das Vergessen

„Ich habe in der Badewanne Gardinen gewaschen“, berichtet Hatice Genç (55). „Und ich habe geschlafen“, sagt ihr Mann Kamil. Sie habe noch ein Geräusch gehört, erinnert sich Hatice. Das Geräusch dürfte von den Mördern ihrer Töchter verursacht worden sein, die in jener Nacht Benzin ausschütteten und im Hausflur an der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen ein Flammeninferno entfachten. Hatice und Kamil sind Überlebende des rassistischen Brandanschlags von Solingen 1993. Sie haben zwei Töchter verloren.

Nun treten sie aus dem Schatten ihrer Mutter und Schwiegermutter Mevlüde Genç, die Ende Oktober vergangenen Jahres gestorben ist. 30 Jahre nach dem verheerenden rassistischen Anschlag stellen sie sich im Rathaus von Solingen den Fragen. „Wir wollen da weitermachen, wo unsere Mutter aufgehört hat. Sie war immer die, die am besten ausgesprochen hat, was wir gefühlt haben. Wir vermissen sie sehr.“ Tränen fließen.

Es ist der erste Gedenktag ohne Mevlüde Genç, die Ende Oktober 2022 starb. Sie hatte nach dem Anschlag immer wieder zur Besonnenheit aufgerufen, obwohl sie zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hatte: Sie waren 4, 9, 12, 18 und 27 Jahre alt.

Die Bundesverdienstkreuzträgerin, eine kleine Frau mit Kopftuch, wurde zum Symbol menschlicher Größe: „Dem Hass muss Einhalt geboten werden. Lasst uns Freunde sein“, sagte sie. Was die überlebenden und nachgeborenen Familienmitglieder 30 Jahre später umtreibt, sind nicht nur die Hass-Botschaften auf den Social-Media-Kanälen, sondern auch das Vergessen: „Die Jugendlichen heute wissen nicht mehr, was damals passiert ist. Weder hier noch in der Türkei.“

Gegen das Vergessen hat die Familie einen Vorschlag mitgebracht: Eine Schule könnte nach ihrer Mutter benannt werden, der Bundesverdienstkreuzträgerin und Friedensbotschafterin Mevlüde Genç. „Wir freuen uns, dass der Bundespräsident zugesagt hat. Das Problem Rassismus ist noch lange nicht gelöst, das haben die Morde des NSU gezeigt. Erinnern ist wichtig“, sagen Hatice und Kalil Genç.

Von den Überlebenden körperlich am schwersten gezeichnet ist Bekir Genç, der sich in der Folge des Anschlags wegen schwerer Verbrennungen rund 30 Operationen unterziehen musste und inzwischen die Öffentlichkeit meidet. An seiner Stelle sind sein Sohn und seine Frau im Rathaus erschienen: „Bekir geht es nicht gut. Er hat jedes Jahr mehr Probleme mit seinen Verletzungen.“

mit dpa/bani