Dortmund als „Brückenbauer“ Die einzigartige Geschichte zwischen dem BVB und Tottenham

Die BVB- und Tottenhamspieler stehen nebeneinander.
Das Duell BVB gegen Tottenham hat eine stolze Geschichte. © imago images/Shutterstock
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Man schrieb den 16. Dezember 1949. Wilhelm Hansmann, der schwergewichtige Dortmunder Oberstadtdirektor, saß an seinem Schreibtisch im alten Stadthaus und arbeitete am Vorwort für das Buch „Von der toten zur lebendigen Stadt,“ in dem über die Situation der durch den 2. Weltkrieg schwer gezeichneten Stadt und ihren Wiederaufbau berichtet wurde. 93 Prozent der Stadt waren zerstört, 90.000 Wohnungen ebenso. Deutschland hatte großes Unglück in die Welt getragen, die eigene Bevölkerung nicht ausgenommen. Wie konnte man das jemals wieder gutmachen? Welche Möglichkeiten der Annäherung an die früheren Kriegsgegner wären denkbar, von einer Aussöhnung ganz zu schweigen? Diese Themen lagen Hansmann, dem ehemaligen Landrat von Hörde, sehr am Herzen. Da fiel sein Blick auf eine Meldung in seiner täglichen Lektüre, der „Londoner Times,“ die sein Interesse weckte.

Die „Times“ als Ideengeber für BVB-Partie

Flugs sprang er auf und schwebte trotz seiner Körperfülle regelrecht beseelt durch die engen Flure des alten Gemäuers hin zu seinem Freund, Stadtrat Fritz Kauermann, dem er den Artikel zeigte. Kauermann, der starke Mann des lokalen Sports, reagierte ähnlich erfreut wie sein Besucher. Gemeinsam begaben sie sich zu Fritz Henßler, Dortmunds Oberbürgermeister. Ohne auf die Etikette des Anklopfens zu achten, betraten sie in etwas hemdsärmeliger Manier Henßlers Reich. „Fritz, ich habe da gerade etwas sehr Interessantes in der Times gelesen,“ sagte Hansmann atemlos und fuchtelte mit der Gazette herum. „Schau her, ich habe sie mitgebracht.“ „Fasst kurz zusammen, was Ihr auf dem Herzen habt,“ meinte Henßler, wie immer in Zeitnöten.

Hansmann: „Hier steht, dass der englische Fußballclub Tottenham Hotspur, die berühmten Spurs, im kommenden Frühjahr mehrere Spiele in Deutschland durchführen möchte. Das könnte ein erster kleiner Schritt auf dem Weg zu einer sportlichen Annährung zwischen England und Deutschland werden. Wir sollten schnell mal mit Heinrich Schwaben vom BVB sprechen, ob sich die Borussen nicht als möglicher Gegner hier in der „Roten Erde“ ins Gespräch bringen wollen. Tottenham hat jüdische Wurzeln. Das gibt der Sache noch eine besondere politische Note.“ Kauermann ergänzte: „Ich kenne ja General Bournes von der britischen Rheinarmee recht gut. Den könnten wir als Türöffner bei den Spurs einsetzen, wenn der BVB mitmacht. Was hältst Du davon?“

BVB gibt das „Go“

Hansmann und Henßler waren übrigens wegen ihrer politischen Einstellung von den Nazis verfolgt und gefoltert worden und Kauermann, in jungen Jahren Mitglied im 1933 verbotenen Arbeitersport, hatte ebenfalls schlimme Erfahrungen gemacht. Henßler, der 1933 im Reichstag gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, verbrachte sogar mehrere leidvolle Jahre im KZ Sachsenhausen. Fritz Henßler hatte sich vor einem halben Jahr beim überwältigenden Empfang des Deutschen Vizemeisters Borussia Dortmund auf dem Neuen Markt als Anhänger der Jungs vom Borsigplatz „geoutet,“ wie man heute sagen würde. Seit damals erwähnte er immer wieder stolz den großen Erfolg der Schwarz-Gelben in allen seinen Ansprachen und Reden.

Wie also zu erwarten war, bekamen Kauermann und Hansmann schnell das „Ja“ Henßlers und schwirrten frohgemut wieder ab. Heinrich Schwaben, der BVB-Grande, war auch sehr angetan von den Plänen der Stadtoberen. Also nahm Kauermann über seinen Freund Bournes Kontakt zu den Londonern auf, und drei Tage vor dem Heiligen Abend 1949 flatterte ein Brief auf seinen Schreibtisch, der sich schnell als Zusage der „Heißsporne“ entpuppte. Als Termin für das große Match wurde der 24. Mai 1950 angeboten. Das war ein wirklich schönes Weihnachtsgeschenk für den „flotten Dreier“ aus dem Stadthaus und natürlich für den BVB. Und so kam es, dass die Gäste aus dem Nord-Osten der englischen Hauptstadt im Mai 1950 im nach wie vor schwer kriegsbeschädigten Stadion Rote Erde ihre erste Visitenkarte überhaupt in Dortmund abgaben. Es wurde „eine vollendete Demonstration englischer Fußballkunst, die sich auch in dem Endergebnis von 4:0 für den Gast ausdrückte“, schrieb damals die Presse. Der unterlegene BVB hielt über die gesamte Spielzeit jedoch unerschrocken und wacker dagegen, sodass die 18.000 Besucher, unter ihnen die Initiatoren Hansmann, Kauermann und Henßler, eine Klassepartie erleben durften.

Alf Ramsey blickt nach oben.
Tottenham-Spieler Alf Ramsey, hier ein Foto seiner Zeit als England-Trainer. © imago sportfotodienst

Tottenham kam mit allen Stars, darunter auch Verteidiger Alf Ramsey. Ramsey ist einer der bekanntesten englischen Kicker aller Zeiten und in einem Atemzug mit Superstars wie Sir Bobby Charlton und Bobby Moore zu nennen. Seine größten Erfolge erzielte er als Trainer der englischen Nationalmannschaft, mit der er 1966 Fußball-Weltmeister wurde. Danach erhob ihn die Queen in den Adelsstand. Die 18.000 Besucher in der Roten Erde spielten knapp 40.000 DM ein. Beide Teams entschieden beim gemeinsamen Bankett, diesen Betrag in voller Höhe dem Deutschen Roten Kreuz in Dortmund zu spenden. So brachte die Partie auch noch einen warmen Geld-Regen für einen wohltätigen Zweck. Ähnlich wie 1919, als der BVB nach dem 1. Weltkrieg in Neheim-Hüsten das allererste Benefizspiel der DFB-Geschichte überhaupt absolvierte. Das Spiel gegen die Spurs nutzten die Drei von der Stadt übrigens, um den BVB zu bitten, selber mit dem Fußball zum „Brückenbauer“ zu werden und dabei insbesondere gegen früheren Kriegsgegner anzutreten.

Und so folgten Spiele gegen Mannschaften aus Frankreich, England, Norwegen, Jugoslawien und viele, viele mehr. 1953 gingen die Schwarz-Gelben selber auf Versöhnungstour durch England. Aus Birmingham schickten sie eine Grußadresse an die kurz zuvor inthronisierte Queen, in der sie von ihrer Mission berichteten. Und siehe da: Elisabeth II. antwortete über ihren Staatssekretär und gab ihrem Wohlwollen über die BVB-Aktivitäten Ausdruck. Ein Jahr später ging es dann sogar in die USA.

Die Spieler von Borussia Dortmund und Manchester City gedenken der verstorbenen Queen Elisabeth II.
Die Spieler von Borussia Dortmund und Manchester City gedenken der verstorbenen Queen Elisabeth II, die die BVB-Aktivitäten in England 1953 begrüßt hatte. © IMAGO/Offside Sports Photography

Damit wurde Borussia Dortmund der heimliche „Außenminister“ Dortmunds und einer der Wegbereiter der Auslandsgesellschaft, die auch heute noch existiert. Und Wilhelm Hansmann trank genüsslich gemeinsam mit seinen Freunden und Weggefährten Fritz Henßler und Fritz Kauermann ein gutes Dortmunder auf die völkerverbindende Kraft von „König Fußball“ und meinte verschmitzt: „Ab und zu ist es doch wirklich gut, mal die Londoner Times zu lesen!“